7.10.2003
Dr. Jürgen Grahl:

Schieflage der Produktionsfaktoren Arbeit und Energie als Ursache der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme

Zu einem eher wirtschaftspolitischen Thema, „Arbeit und Wohlstand für alle – die Überwindung des Wachstumsdogmas“, hatte Solar mobil Heidenheim Dr. Jürgen Grahl eingeladen. Trotzdem stand die Energie im Mittelpunkt. Messerscharf analysierte der als Mathematiker an der Universität Würzburg Tätige die heute gängigen Wirtschaftstheorien und erkannte darin, ebenso wie in der politischen Wirklichkeit einen gravierenden Steuerungsfehler: die Unterbewertung des Produktionsfaktors Energie.

Wachstum werde als Allheilmittel aller gegenwärtigen Probleme angesehen. Dennoch könne sich jeder logisch denkende Mensch klar machen, dass exponentielles Wachstum alle irdischen Grenzen sprenge. Auch lineares Wachstum sei über längere Zeit nicht durchhaltbar. Ein Absinken der Wachstumsrate äußere sich aber bereits in merklich schlechterer Wohlfahrt. Dennoch gestand der Referent ein, werde im gegenwärtigen System Wirtschaftswachstum benötigt.

In seiner Analyse stellte Grahl fest, dass das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) ein unzulänglicher Leistungsmesser im Wirtschaftssystem sei, da es Naturkapital oder nicht-monetäre Tätigkeiten wie Erziehungsarbeit ausblende. Als zweiten Strukturfehler benannte er die Ausblendung von externen Kosten. So sei es heute üblich, den Nutzen zu privatisieren, die realen volkswirtschaftlichen Kosten aber der Allgemeinheit aufzubürden. (Die Kilowattstunde Atomstrom würde heute 3,60 Euro kosten, wenn das Kernenergie-Risiko versichert werden müsste). Der schwerwiegendste Strukturfehler sei aber die völlige Schieflage der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Nach heutiger Lehre hätte der wirtschaftliche Einbruch in der Ölkrise nur 0,35 Prozent des BIP betragen dürfen. Tatsächlich betrug er 5 Prozent. Dies zeige, dass der Produktionsfaktor Energie zu niedrig eingeschätzt werde. Rainer Kümmel von der Universität Würzburg und andere hätten dagegen versucht, die Produktionsmächtigkeit der Energie empirisch zu ermitteln. Ihnen zufolge beträgt deren Produktionsmächtigkeit 44 Prozent, die der Arbeit jedoch nur 9 Prozent. Die Kosten der Arbeit betrage andererseits 65 Prozent, die der Energie nur 5 Prozent. Bei Investitionen in energieabhängige Produktionsmittel stiegen die Kosten unwesentlich, bei Investitionen in Arbeit dagegen stark. „Heute wird nur noch in Arbeit investiert, wenn es unvermeidbar ist“. Das alles dominierende Entwicklungsmuster sei die Substitution von Arbeit plus Kapital durch Energie plus Kapital. Beschleunigt werde „der Prozess der Ersetzung von Arbeit durch Energiesklaven“ durch ein Steuersystem, das den Faktor, der ohnehin am teuersten ist, durch Steuern hoch, die Energie aber wenig belastet. Dem sei entgegenzusteuern. Nur so könne allmählich der permanente Wachstumszwang gebrochen werden.

Als mögliche Alternative prüfte der Referent die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells und Margot Kennedys, die den Wachstumszwang mit immer höheren Zinslasten begründen. Dies sei ein wichtiger Ansatz, doch „ er reicht als Erklärung nicht aus“. Grahls ergänzende Lösung lautete: Steuern und Abgaben verlagern von der Arbeit zur Energie! Er betonte, dass es sich hierbei um ein sehr langfristiges Konzept handelt. Zwar gehe die ökologische Steuerreform in die richtige Richtung, der Begriff sei jedoch unglücklich gewählt und beschreibe nicht den Kern seines Anliegens.

Der Referent beeilte sich, eventuelle Einwände zu entkräften: Man wolle keineswegs die Maschinenarbeit durch Handarbeit ersetzen, aber für die Politik Gestaltungsspielräume zurückgewinnen, zum Beispiel für Investitionen in Bildung oder Pflege. Man wolle eine Gesellschaft „in der es wieder um Menschen geht und nicht primär ums Geld“. Den Einwand, ein solcher Kurswechsel könne nicht im nationalen Alleingang vollzogen werden, ließ er nicht gelten. Es gebe auf EU-Ebene sowieso Bestrebungen zu höherer Energiebesteuerung und wenn der Prozess langsam vonstatten gehe, die Wirtschaft also langfristig mit höheren Energie-Ausgaben kalkulieren könne, sei ein sozialverträglicher Strukturwandel zu schaffen. Der Neoliberalismus und Neokeynesianismus, seien jedenfalls untauglich und bedeuteten eine „staatliche Reichtumspflege“, letztlich die „20:80-Gesellschaft“.